Sonntag, 11. Dezember 2016

Die Quellenarbeit und die Nachwirkungen von Chapuys´ negativen Darstellung



Grundsätzlich ist die Quellenarbeit bei historischen Gegebenheiten eine schwierige Angelegenheit. So ferner etwas zurückliegt, desto weniger Material findet sich üblicherweise. Das wird dann zusätzlich erschwert, wenn sich die Gegebenheiten in Bereichen der Lebenswelt zutrugen, in denen jener Zeit wenig Interesse lag, wie zum Beispiel das Leben der sozialen weniger gut gestellten Personen. Das umfasst zumeist auch Frauen, die, wie allgemein bekannt, in der Regel weniger Ansehen als Männer des gleichen sozialen Status genossen.
 
Aber wie kann man damalige Gegebenheiten erfassen? Das geschieht anhand der Rekonstruktion und Ableitung von erhaltendem Dokumente wie Kirchensteuern, Testamente und etc. Dies geschieht natürlich im Idealfall nicht unreflektiert, sondern unter Berücksichtigung in welchen Zusammenhang was und wie entstanden ist. Es gibt eine ganze Reihe an Aspekten, die dabei berücksichtigt werden müssen. Damit wird deutlich, wie schwierig die Arbeit generell mit geschichtlichen Themen ist.
Und spätestens jetzt wird klar, weshalb die frühen Jahre Annes so spärlich dokumentiert sind: Als Tochter eines Adligen war sie einfach nicht wichtig genug.

Erschwerend kommt hinzu, dass auch HistorinkerInnen nur Menschen sind und ihre eigenen Lebenswelt und das moderne Gedankengut nicht komplett abschütteln können. Bestimmte Gegebenheiten erscheinen in unseren Denkstrukturen als absurd oder lächerlich. Es ist nötig, so gut es geht, seine eigene Subjektivität beiseite zu schieben. Das kann nicht vollständig geschehen, aber man sollte es bestmöglich versuchen und sich der eignen Subjektivität bewusst sein. Zudem ist – wie bereits erwähnt - bei der Durchsicht der Quellen die Berücksichtigung derer Entstehung relevant, um die Ereignisse und Personen aus ihrer eigenen Zeit zu verstehen. Dabei kann man sich allerdings nur der Wahrheit annähern, jedoch nicht zur Gänze erfassen.
Noch kniffliger wird es durch die Tatsache, dass viele Quellen aus einen bestimmten Kontext entstanden sind; D.h. der Autor hatte möglicherweise bestimmte Absichten bei dem Verfassen des Textes und/oder es besteht eine Wertigkeit darin. Dann ist der Zeitpunkt der Entstehung ebenso relevant; Eine Quelle, die nachträglich über ein Ereignis berichtet, tut dies mit der Kenntnis über den Ausgang und kann somit kaum das Geschehene vollständig erfassen. Daher wäre es auch fatal, Anne Absichten bezüglich eines Thronanspruches zu unterstellen – Wir wissen wie es ausgegangen ist, aber war das wirklich absehbar, in einer Zeit, in der König und Königin einen so hohen Status innehielten?! Man kann es einfach nicht sagen. Ein weiteres Problem ist die Frage nach der Informationsbeschaffung: War derjenige Zeuge des Ereignisses oder hat er seine Kenntnisse über dritte?


Was heißt das bei Anne Boleyn? 

Nun, viele Berichte über sie, zeitgenössisch oder später verfasste, die protestantischer Quelle waren, beschreiben sie als tadellose Christin und Königin, welche England zum rechten Glauben geführt hat, während katholische Quellen sie als Ketzerin deklarieren, die den König von seiner rechtmäßigen Gattin und der katholischen Kirche weggelockt hat. Und somit ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Gerüchte über Anne von katholischen Personen stammen.

Aber trotz dieser Problematiken ist das Ganze nicht ausweglos: Wenn zwei oder mehr Quellen unabhängig eine Situation ähnlich beschreiben, so kann von einen gewissen Wahrheitsgehalt ausgegangen werden, wie zum Beispiel bei den Beschreibungen zu Annes Hinrichtung, die unterschiedlichen, teils voneinander unabhängigen Quellen zu Grunde liegen.

Damit ist die Quellenarbeit ein Prozess, der von einen ständigen Abwägen der vorhandenen Quellen begleitet ist und nicht ohne Hinterfragung deren Verfasser sowie deren Motivation geschehen kann, um eine sinnige Rekonstruktion zu ermöglichen.


Chapuys´ Darstellung und deren Einfluss auf die Wahrnehmung Annes

Da viele (nicht nur HistorikerInnen) sich massiv auf seine Angaben stützen, wird Annes Bild noch heute stark von Chapuys geprägt. Das ist aus mehreren Gründen problematisch, denn dass er mitunter der Einzige ist, der über bestimmte Gegebenheiten berichtete, wird wohl außer Acht gelassen und es werden Fehlinformationen weiterverbreitet. 

Möglicherweise beziehen sich viele aus bloßer Verzweiflung über die geringe Quellenlage zu Anne auf Chapuys, aber in Anbetracht seines Hintergrunds und fehlenden anderen Quellen, sollten er jedoch mit äußerster Vorsicht betrachtet werden.

Warum sind Chapuys´ Informationen so kritisch zu betrachten? Chapuys als Katholik und glühender Anhänger Catalinas war per se schon äußerst voreingenommen, zudem hat er seine Abneigung gegen Anne nicht verheimlicht. Nun, Chapuys hatte ein umfangreiches Netzwerk an Informanten – darunter häufig Höflinge - und Agenten. Allerdings war er ebenso eine Anlaufstelle für alle Personen, denen Vorgänge am Hof missfielen (Nicht zwangsläufig nur bezüglich Anne), was zur Folge hatte, dass seine Informationen schlichtweg oft nur Hofklatsch waren. Gleichzeitig wollten sich einige Menschen mit Chapuys gut stellen, der u.a. beim König selbst beliebt war, und berichteten von ihrer Treue zu Mary und Catalina – ob wahr oder nicht, beschönigt oder ehrlich, man weiß es nicht. Ferner liegt es nahe, dass auch absichtlich falsche Informationen an Chapuys weitergegeben wurden, schließlich lässt sich vermuten, dass diese nicht altruistisch ihr vermeintliches Wissen weitergaben. 

Das Ganze wird noch nebulöser, wenn man bei der Quellenanalyse feststellt, dass es vor Chapuys Ankunft am englischen Hof kaum negative Berichte zu Anne gab. Er war es auch, der von Annes Wutausbrüchen inbrünstig berichtete und als erstes die Behauptung vorantrieb, dass Anne für Henrys Veränderungen verantwortlich war. Damit prägten seinen Aufzeichnungen, die mit offensichtlich schädlichem Bestreben zustande kamen, wesentlich das heutige Bild der „tugendhaften, geduldigen Catalina“ und der „egoistischen, ungeduldigen Anne“.  Susan Bordo analysiert mitunter Chapuys´ Einfluss auf das noch heutig bestehende Bild zu Anne in ihren Buch The creation of Anne Boleyn - A newlook at England´s most notorious queen“.  Absolut empfehlenswert!

Was bleibt, wenn man Chapuys Schriften mit einem kritischeren Blick untersucht und jene anderen Quellen, die sich auf ihn beziehen, dahingehend auswertet?! Wenig, aber das, was bleibt und teilweise von unabhängigen Quellen berichtet wurde, liegt wohl näher an der Realität als Chapuys. Ich will nicht sagen, dass Chapuys von geringer Intelligenz war und es nicht besser wusste: Es ist ebenso möglich, dass diese Art der Berichtbestattung damals üblich war, aber sie ist zweifellos eine zutiefst  - und ich nehme an gewollt -diskreditierend, die man aufgrund seiner bekannten Abneigung gegenüber Anne nicht so viel Gewicht beimessen sollte. 

Und das wenige an Information, was sich daraus ergibt, stützt in keinster Weise das Bild der egoistischen Anne, sondern es bleibt eine kluge und belesene Frau, die ihren Aufstieg mit dem Leben bezahlte. Anne Boleyn war weder eine Heilige, noch eine Hexe – und entspricht nicht der negativen Darstellung Chapuys´. Das, was die Quellen nach kritischer Hinterfragung und gesunden Menschenverstand noch hergeben, entzieht seinen Aussagen jeglicher Substanz.

Aber auch hier gilt: Letztendlich können wir nur mit den vorhanden Quellen und deren intensiver Analyse eine Annäherung an den wahren Kern der Geschichte durchführen. Was wirklich geschehen ist, ist einfach nicht mehr in vollen Zügen zu rekonstruieren.

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