Grundsätzlich ist die Quellenarbeit bei
historischen Gegebenheiten eine schwierige Angelegenheit. So ferner etwas
zurückliegt, desto weniger Material findet sich üblicherweise. Das wird dann zusätzlich
erschwert, wenn sich die Gegebenheiten in Bereichen der Lebenswelt zutrugen, in
denen jener Zeit wenig Interesse lag, wie zum Beispiel das Leben der sozialen
weniger gut gestellten Personen. Das umfasst zumeist auch Frauen, die, wie
allgemein bekannt, in der Regel weniger Ansehen als Männer des gleichen
sozialen Status genossen.
Aber wie kann man damalige Gegebenheiten
erfassen? Das geschieht anhand der Rekonstruktion und Ableitung von erhaltendem
Dokumente wie Kirchensteuern, Testamente und etc. Dies geschieht natürlich im
Idealfall nicht unreflektiert, sondern unter Berücksichtigung in welchen
Zusammenhang was und wie entstanden ist. Es gibt eine ganze Reihe an Aspekten,
die dabei berücksichtigt werden müssen. Damit wird deutlich, wie schwierig die
Arbeit generell mit geschichtlichen Themen ist.
Und spätestens jetzt wird klar, weshalb die
frühen Jahre Annes so spärlich dokumentiert sind: Als Tochter eines Adligen war
sie einfach nicht wichtig genug.
Erschwerend kommt hinzu, dass auch
HistorinkerInnen nur Menschen sind und ihre eigenen Lebenswelt und das moderne
Gedankengut nicht komplett abschütteln können. Bestimmte Gegebenheiten
erscheinen in unseren Denkstrukturen als absurd oder lächerlich. Es ist nötig,
so gut es geht, seine eigene Subjektivität beiseite zu schieben. Das kann nicht
vollständig geschehen, aber man sollte es bestmöglich versuchen und sich der
eignen Subjektivität bewusst sein. Zudem ist – wie bereits erwähnt - bei der
Durchsicht der Quellen die Berücksichtigung derer Entstehung relevant, um die
Ereignisse und Personen aus ihrer eigenen Zeit zu verstehen. Dabei kann man
sich allerdings nur der Wahrheit annähern, jedoch nicht zur Gänze erfassen.
Noch kniffliger wird es durch die Tatsache,
dass viele Quellen aus einen bestimmten Kontext entstanden sind; D.h. der Autor
hatte möglicherweise bestimmte Absichten bei dem Verfassen des Textes und/oder
es besteht eine Wertigkeit darin. Dann ist der Zeitpunkt der Entstehung ebenso
relevant; Eine Quelle, die nachträglich über ein Ereignis berichtet, tut dies
mit der Kenntnis über den Ausgang und kann somit kaum das Geschehene
vollständig erfassen. Daher wäre es auch fatal, Anne Absichten bezüglich eines
Thronanspruches zu unterstellen – Wir wissen wie es ausgegangen ist, aber war
das wirklich absehbar, in einer Zeit, in der König und Königin einen so hohen
Status innehielten?! Man kann es einfach nicht sagen. Ein weiteres Problem ist
die Frage nach der Informationsbeschaffung: War derjenige Zeuge des Ereignisses
oder hat er seine Kenntnisse über dritte?
Was
heißt das bei Anne Boleyn?
Nun, viele Berichte über sie,
zeitgenössisch oder später verfasste, die protestantischer Quelle waren,
beschreiben sie als tadellose Christin und Königin, welche England zum rechten
Glauben geführt hat, während katholische Quellen sie als Ketzerin deklarieren,
die den König von seiner rechtmäßigen Gattin und der katholischen Kirche
weggelockt hat. Und somit ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Gerüchte
über Anne von katholischen Personen stammen.
Aber trotz dieser Problematiken ist das Ganze
nicht ausweglos: Wenn zwei oder mehr Quellen unabhängig eine Situation ähnlich
beschreiben, so kann von einen gewissen Wahrheitsgehalt ausgegangen werden, wie
zum Beispiel bei den Beschreibungen zu Annes Hinrichtung, die unterschiedlichen,
teils voneinander unabhängigen Quellen zu Grunde liegen.
Damit ist die Quellenarbeit ein Prozess,
der von einen ständigen Abwägen der vorhandenen Quellen begleitet ist und nicht
ohne Hinterfragung deren Verfasser sowie deren Motivation geschehen kann, um
eine sinnige Rekonstruktion zu ermöglichen.
Chapuys´
Darstellung und deren Einfluss auf die Wahrnehmung Annes
Da viele (nicht nur HistorikerInnen) sich
massiv auf seine Angaben stützen, wird Annes Bild noch heute stark von Chapuys
geprägt. Das ist aus mehreren Gründen problematisch, denn dass er mitunter der
Einzige ist, der über bestimmte Gegebenheiten berichtete, wird wohl außer Acht
gelassen und es werden Fehlinformationen weiterverbreitet.
Möglicherweise beziehen sich viele aus
bloßer Verzweiflung über die geringe Quellenlage zu Anne auf Chapuys, aber in
Anbetracht seines Hintergrunds und fehlenden anderen Quellen, sollten er jedoch
mit äußerster Vorsicht betrachtet werden.
Warum sind Chapuys´ Informationen so
kritisch zu betrachten? Chapuys als Katholik und glühender Anhänger Catalinas war
per se schon äußerst voreingenommen, zudem hat er seine Abneigung gegen Anne
nicht verheimlicht. Nun, Chapuys hatte ein umfangreiches Netzwerk an
Informanten – darunter häufig Höflinge - und Agenten. Allerdings war er ebenso
eine Anlaufstelle für alle Personen, denen Vorgänge am Hof missfielen (Nicht
zwangsläufig nur bezüglich Anne), was zur Folge hatte, dass seine Informationen
schlichtweg oft nur Hofklatsch waren. Gleichzeitig wollten sich einige Menschen
mit Chapuys gut stellen, der u.a. beim König selbst beliebt war, und
berichteten von ihrer Treue zu Mary und Catalina – ob wahr oder nicht, beschönigt
oder ehrlich, man weiß es nicht. Ferner liegt es nahe, dass auch absichtlich
falsche Informationen an Chapuys weitergegeben wurden, schließlich lässt sich
vermuten, dass diese nicht altruistisch ihr vermeintliches Wissen weitergaben.
Das Ganze wird noch nebulöser, wenn man bei
der Quellenanalyse feststellt, dass es vor Chapuys Ankunft am englischen Hof
kaum negative Berichte zu Anne gab. Er war es auch, der von Annes Wutausbrüchen
inbrünstig berichtete und als erstes die Behauptung vorantrieb, dass Anne für
Henrys Veränderungen verantwortlich war. Damit prägten seinen Aufzeichnungen,
die mit offensichtlich schädlichem Bestreben zustande kamen, wesentlich das
heutige Bild der „tugendhaften, geduldigen Catalina“ und der „egoistischen,
ungeduldigen Anne“. Susan Bordo
analysiert mitunter Chapuys´ Einfluss auf das noch heutig bestehende Bild zu
Anne in ihren Buch „The creation of Anne Boleyn - A newlook at England´s most notorious queen“. Absolut empfehlenswert!
Was bleibt, wenn man Chapuys Schriften mit
einem kritischeren Blick untersucht und jene anderen Quellen, die sich auf ihn
beziehen, dahingehend auswertet?! Wenig, aber das, was bleibt und teilweise von
unabhängigen Quellen berichtet wurde, liegt wohl näher an der Realität als
Chapuys. Ich will nicht sagen, dass Chapuys von geringer Intelligenz war und es
nicht besser wusste: Es ist ebenso möglich, dass diese Art der
Berichtbestattung damals üblich war, aber sie ist zweifellos eine zutiefst - und ich nehme an gewollt -diskreditierend,
die man aufgrund seiner bekannten Abneigung gegenüber Anne nicht so viel
Gewicht beimessen sollte.
Und das wenige an Information, was sich daraus
ergibt, stützt in keinster Weise das Bild der egoistischen Anne, sondern es
bleibt eine kluge und belesene Frau, die ihren Aufstieg mit dem Leben bezahlte.
Anne Boleyn war weder eine Heilige, noch eine Hexe – und entspricht nicht der
negativen Darstellung Chapuys´. Das, was die Quellen nach kritischer
Hinterfragung und gesunden Menschenverstand noch hergeben, entzieht seinen
Aussagen jeglicher Substanz.
Aber
auch hier gilt:
Letztendlich können wir nur mit den vorhanden Quellen und deren intensiver Analyse
eine Annäherung an den wahren Kern der Geschichte durchführen. Was wirklich
geschehen ist, ist einfach nicht mehr in vollen Zügen zu rekonstruieren.
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